Pädagogische Präsenz in Zeiten von Corona

10. Juni 2020

Seit einigen Wochen müssen wir uns unerwartet mit der Frage beschäftigen, wie wir Familien beraten können, deren Mitglieder in ihrem Aktionsradius auf das häusliche Umfeld beschränkt sind, deren Kinder weder Schule noch Kindertagesstätte besuchen und die wir gleichzeitig fast nur noch per Telefon, E-Mail oder Videokonferenz erreichen. Welchen Einfluss hat diese Situation auf die Begegnungen und Beziehungen der beteiligten Personen untereinander?
Das Wesen elterlicher Präsenz
In unserem pädagogischen Ansatz, insbesondere im Coaching für Eltern, messen wir der Präsenz im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern einen hohen Stellenwert bei. In Anlehnung an die Ideen des israelischen Psychologen Haim Omer meint Präsenz, im Leben eines Kindes anwesend und gegenwärtig zu sein, aufmerksam und wach, sichtbar und spürbar. „Wir sind deine Eltern und als solche bleiben wir da: als deine Wegbegleiter, als deine Zuhörer, als deine Schützer, als deine Tröster und als Schützer der gesamten Familie. Manchmal sind wir aber auch deine Erzieher, deine Blockierer und deine Schrankensetzer. In diesen beiden Funktionen sind wir da und bleiben da, wir können nicht abgeschüttelt werden, wir können nicht umgangen werden, wir können nicht ausgetrickst werden.“ Kaum eine andere Formulierung als diese von Haim Omer drückt das Wesen von elterlicher Präsenz besser aus. Und sie gilt ebenso für andere Erwachsene wie etwa für Lehrer.
Die sieben Ebenen der Präsenz
Pädagogische Präsenz kann auf verschiedenen Ebenen wirksam werden. Da ist zum einen die rein physische oder körperliche Präsenz: Bin ich als leibhaftiges Wesen da, sprich: vor Ort? Bin ich physisch anwesend und wenn ja: stehe ich aufrecht und offen im Raum oder gebeugt und versunken in einer Ecke? Das hat einen Einfluss auf die Menschen, die Kinder, mit denen ich den Raum teile. Mein körperliches Erscheinungsbild kann schon Auskunft auch über meine mentale Präsenz geben: Bin ich mit meinen Gedanken und mit meinen Sinnen bei der Sache? Bin ich fokussiert? Die dritte Präsenzebene betrifft meine Intention: Weiß ich eigentlich, was ich gerade will, welches Ziel ich verfolge, was mir hier und jetzt wichtig ist? Oder schwanke ich ziellos hin und her und gebe unklare Signale? Was nehmen meine Mitmenschen, die Kinder, von meiner Intention wahr? Grundlage dafür ist die moralische Präsenz: Wovon bin ich überzeugt, welche Werte leiten mich? Nur wenn ich selbst überzeugt bin, kann ich auch überzeugend wirken. Wie ein Anliegen von mir benannt werden kann, entscheidet sich zudem auf der Ebene der internalen, der inneren Präsenz: Wie bin ich gerade drauf? Wie sieht es in meinem Inneren aus? Besteht die Gefahr, dass ich mich in Streitereien verwickeln lasse? Oder kann ich mich gerade gut selbst regulieren? Auf der Ebene der pragmatischen Präsenz stellen sich folgende Fragen: Hab ich eine Idee, was ich gerade tun kann? Was sich ganz praktisch umsetzen lässt? Und wie ich selbstwirksam werde, ganz unabhängig vom Verhalten der Anderen? Das hängt oft auch davon ab, ob ich Menschen an meiner Seite habe, die mir helfen, die mich unterstützen. Und dies ist schließlich die systemische Präsenz.
Verschiebungen der Präsenzdynamik durch soziale Distanz
In diesen Zeiten, in denen „Social Distancing“ eines der Zauberwörter zur Bewältigung der Corona-Krise ist, zeigt sich die Bedeutung von Präsenz in einem besonderen, noch einmal erhellenden Licht. In den Familien herrscht auf einmal eine höhere physische Präsenz, weil alle zuhause sind. Eltern und Kinder begegnen sich viel intensiver, bekommen viel mehr vom Alltag und vom Leben des Anderen mit. Ganz anders sieht es im schulischen Bereich aus. Die Schüler sehen ihre Lehrer höchstens auf dem Bildschirm und dann nur für einige Minuten. Erledigte Aufgaben werden abfotografiert und per E-Mail verschickt. Erzieherinnen in den Kindertagesstätten organisieren den Morgenkreis per Video-Schalte, damit sich die Kinder einmal am Tag gegenseitig wenigstens sehen und hören können. Was aber passiert hier auf der Ebene der körperlichen Präsenz? Was ist mit dem aufmunterten Schulterklopfen des Lehrers, der tröstenden Berührung der Erzieherin oder mit den kräftigen Knuffen in einer Rauferei unter Kindern? Was ist mit dynamischen Gruppenprozessen, in denen Energie und kreative Ideen entstehen, auf einmal mehr da ist als die Summe aller Teile? Sie alle fehlen oder sind stark reduziert. Gerade jüngere Schüler sind, wie wir jetzt feststellen, oft noch gar nicht in der Lage, zu Lerninhalten mit ihren Lehrerinnen zu telefonieren.
Wenn alles Sinnliche fehlt
Ähnlich verhält es sich mit unseren Beratungen. Das allein schon heilsame Zusammensein mit anderen Menschen, der gemeinsame Blick aus dem Fenster auf den blühenden Baum, der Duft von heißem Kaffee, der Entspannung verspricht, das gereichte Taschentuch in aufwühlenden Gesprächssituationen – alles Sinnliche fehlt. Und wir haben es ungleich schwerer, ein Gefühl für die Situation und die ratsuchenden Menschen zu bekommen, die uns normalerweise gegenüber sitzen. Begegnungen gehen über den Kopf, werden rational und virtuell. Gelingen sie dennoch, basiert das meistens auf einer vorhandenen Beziehung, die in besseren Zeiten wachsen durfte. Doch wie lange trägt sie, wenn sie nicht genährt wird? Bei den Schülern beobachten wir, dass ihre Motivation und ihr Durchhaltevermögen beim Home-Schooling mit jeder Woche abnehmen, in der die Präsenz der Lehrer fehlt oder zumindest unvollständig ist. Einfacher ausgedrückt: Schüler brauchen Schulen mit Mitschülern und Lehrern!
Auch Nähe kann zu viel werden
Aber Präsenz ist nicht gleichzusetzen mit Nähe, die Familien zurzeit verstärkt erleben, da ihre Kinder nicht in Schule oder Kindertagesstätte gehen können. Nähe ist ein Teil von Präsenz, und deswegen profitiert manche Familie und manches Eltern-Kind-Verhältnis in der aktuellen Situation von der ungewohnten Gemeinsamkeit und der geteilten Zeit, vielleicht auch vom geteilten Schicksal. Der Feind draußen, das Corona-Virus, lässt drinnen alle zusammen rücken. Ein schönes Beispiel wurde uns aus einer Familie berichtet, in der der 5-jährige Sohn es genau in dieser Zeit der großen Nähe erstmals schaffte, alleine in seinem eigenen Bett die Nächte durchzuschlafen. Viele Versuche vorher, auch von ihm selbst, waren vergeblich geblieben. Aber auch Loslösung und Autonomie, auf beiden Seiten, sind ein unerlässlicher Aspekt der Eltern-Kind-Beziehung und gleichzeitig gemeint, wenn von Präsenz die Rede ist. Nähe kann eben auch zu viel werden, Entwicklung hemmen und Konflikte befördern, die Flucht in virtuelle Welten und PC-Sucht forcieren. Auch das kann dann vermeintlich als Weg erscheinen, Autonomie und Unabhängigkeit zu realisieren. Und es birgt eine gewisse Gefahr, wenn Lernen nur noch über digitale Medien stattfindet und Eltern wegen der geschlossenen Schulen zusätzlich für Tagesstruktur und Home-Schooling sorgen und damit einen Teil der Präsenz der Lehrer stellvertretend übernehmen sollen.
Die richtige Balance finden
Ablösung und Präsenz schließen einander nicht aus. Das Band zwischen Erwachsenem und Kind, das auch auf Distanz verbindet, bezeichnen wir als wachsame Sorge. Sie ist das „Grundrauschen“ der Präsenz und bietet dem Kind den nötigen Halt in seinem Leben. Wie ein Leuchtturm seine Lichtzeichen aussendet und damit für Orientierung auch und gerade bei stürmischer See sorgt, so können Eltern und Lehrer je nach Situation und Gefährdungslage mithilfe ihrer wachsamen Sorge dem Kind zur Seite stehen. Insbesondere bei Jugendlichen, die mehr und mehr ihre eigenen Wege gehen, ist es hilfreich, wenn sie dabei die Stimme der Erziehenden im Hinterkopf begleitet und sie damit besser für sich selbst sorgen können. Doch auch die wachsame Sorge, die Tele-Verbindung im Erwachsenen-Kind-Verhältnis, benötigt zum Auftanken gelegentlich die richtige Dosis an Nähe und physischer Präsenz, nicht zu viel und nicht zu wenig. Wie soll das in Zeiten von Corona funktionieren?
Digitale Medien lassen uns gerade ungeahnte Möglichkeiten der Kommunikation und des Beisammenseins entdecken. Neue Formen des Austauschs erweitern unser Spektrum, und viele der Präsenzen lassen sich darüber transportieren – die körperliche allerdings nicht. Wir gehen von einer Einheit von Körper, Geist und Seele aus und davon, dass sich menschliche Entwicklung als ganzheitlicher Prozess vollzieht. Auf der anderen Seite kann es in der Enge der häuslichen Gemeinschaft auch zu einem Überangebot an physischer Präsenz kommen, insbesondere für große Kinder und Jugendliche. Auch hier bewahrheitet sich wieder das afrikanische Sprichwort, nach dem es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Letztlich sind das Zusammenspiel aller Präsenzebenen und ihre Ausgewogenheit entscheidend für ein positives Erwachsenen-Kind-Verhältnis.
Sebastian Conradt
SOS-Kinderdorf Hamburg