Der Leiter des SOS-Kinderdorfs Bremen, Dr. Lars Becker, war in der Sendung „Bremen Zwei – Der Tag“ zu Gast, um von den Planungen für die Inobhutnahmegruppe für Geschwister zu berichten, die im kommenden Jahr eröffnen wird.
„Inobhutnahme so wird es genannt, wenn Kinder zu ihrem Schutz aus der eigenen Familie genommen werden. Gründe dafür wären zum Beispiel körperliche oder seelische Misshandlungen zu wenig Zuwendung Gewalt jedweder Art. Im Jahr 2018 haben Jugendamtsmitarbeiter in Deutschland über 40.000 Kinder in Obhut genommen. Bisher war es so, dass Kinder aus einer Familie dann getrennt untergebracht wurden. Zumindest in Bremen könnte das in Zukunft anders aussehen. Das SOS-Kinderdorf Bremen plant nämlich ein sogenanntes Geschwisterhaus zu eröffnen. Darüber will ich jetzt sprechen mit Lars Becker, dem Leiter des SOS-Kinderdorfs Bremen.
Herr Becker, 40.000 Kinder, die aus den Familien genommen würden. Das ist eine große Zahl. Ist die in den letzten Jahren gestiegen?“
Dr. Lars Becker: „Die Zahl ist tatsächlich angestiegen in den letzten Jahren. Wir erinnern uns noch an den Fall Kevin, der ja auch bundesweit bekannt wurde. Und danach sind die Zahlen der Inobhutnahme deutlich gestiegen. Und es gab dann nochmal einen Boom durch die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die jetzt aber in der Zahl, wenn wir über 40 000 sprechen, schon herausgerechnet sind.“
„Wie alt sind denn die Kinder in der Regel, wenn sie aus den Familien genommen werden oder zieht sich das durch alle Altersgruppen?“
Dr. Lars Becker: „In Obhut genommen werden kann man durch das Jugendamt solange man minderjährig ist und der überwiegende Teil der Kinder ist unter 13 Jahre alt.“
„Was sind denn die Hauptgründe? Warum nimmt man Kinder aus ihren Familien raus?“
Dr. Lars Becker: „Wir sprechen von Kindeswohlgefährdung. Die kann unterschiedlich ausgeprägt sein. Das können Vernachlässigungen sein, der persönlichen Hygiene, aber auch der Ernährung, der Zuwendung. Da gibt es ganz unterschiedliche Gründe und sie können sich vorstellen, wenn das Jugendamt die Entscheidung trifft, ein Kind aus der Familie herauszunehmen, dann sind es akute Gefährdungsmomente, wo schnelles Handeln erforderlich ist.“
„Wenn Gewalt angewendet wird oder Kinder vollkommen vernachlässigt werden?“
Dr. Lars Becker: „Das sind Beispiele.“
„Was passiert dann mit den Kindern und wer entscheidet dann, was passiert?“
Dr. Lars Becker: „Die Entscheidung darüber, ob ein Kind aus der Familie genommen wird, kann in Deutschland ausschließlich ein Jugendamt treffen. Und Kinder, die von jetzt auf gleich aus der Familie genommen werden zum eigenen Schutz, kommen in sogenannte Inobhutnahmestellen. Das sind Stellen, die darauf vorbereitet sind, Kinder ohne großen Vorbereitungsprozess aufzunehmen und vorübergehend zu versorgen. Und solange sie dort sind, findet parallel ein Klärungsprozess statt, wo geguckt wird, ob sich die Vermutung bestätigt. Es findet eine Klärung in der Familie statt. Vierzig Prozent der Kinder gehen wieder zurück in die Herkunftsfamilie, in der Regel mit einer ambulanten Maßnahme, wo Pädagogen in der Familie unterstützend tätig sind. Und die anderen Kinder, bei denen wir geguckt, ist eine Kinderdorffamilie oder eine Wohngruppe das richtige Setting, wie wir sagen, um das Kind weiter zu versorgen.“
„Nun gibt es aber in Familien oft auch mehrere Kinder, also Geschwisterkinder und für die haben sie in Bremen ein Haus geplant. Wie soll das aussehen?“
Dr. Lars Becker: „Wir eröffnen eine Inobhutnahmestelle ganz speziell für Geschwister. Wenn mehrere Kinder gleichzeitig in Obhut genommen werden, dann ist es oft auch eine Kapazitätsfrage in den bestehenden Inobhutnahmeeinrichtungen. Die Gefährdung für die Kinder geht so gut wie nie von anderen Geschwisterkindern aus, sondern liegt in den Lebensumständen oder in dem Verhältnis zu den Eltern begründet. Deswegen gibt es keinen Grund, Geschwisterkinder zu trennen, sondern sie sind ganz im Gegenteil eine Ressource füreinander, weil sie vertraut sind. Sie haben sich ja auch in der belastenden Zeit vorher schon gegenseitig gestützt.
Und wir eröffnen ein Haus mit zehn Plätzen, das auch von der Infrastruktur des Gebäudes so strukturiert ist, dass Geschwister weiterhin im Geschwisterverbund betreut werden können und so viel Normalität wie möglich erhalten wird.“
„Von wem werden Sie dann betreut?“
Dr. Lars Becker: „Von unseren pädagogischen Fachkräften.“
„Aber zehn Plätze, das hört sich jetzt erst mal nicht viel an.“
Dr. Lars Becker: „Genau, aber das ist ja auch nur das, was wir hier in Bremen tun. Es gibt in Bremen verschiedene Inobhutnahmestellen, bei denen sich aber deutlich zeigt, dass die Kapazitäten gerade für Geschwisterkinder nicht ausreichend sind. Und sie müssen sich vorstellen, dass im Unterschied zu Wohngruppen die Verweildauer in einer Inobhutnahmestelle auch nicht so lang ist. Das ist die Ambulanz der Jugendhilfe. Die Kinder kommen, die Situation wird geklärt und dann weiter versorgt, so dass die zehn Plätze auch regelmäßig wieder frei sind.“
„Dann danke ich Ihnen bis hierher für ihre Auskunft und für das Geschwisterhaus viel Erfolg.“