Alle Uhren auf Anfang
„Ich hatte großes Glück“, sagt Yasemin* wenn sie an die letzten sechs Jahre ihres Lebens denkt. Fünf davon hat sie in einem Apartment der Flexiblen Hilfen des SOS-Kinderdorfs Bremen verbracht und ist dabei von pädagogischen Mitarbeitern begleitet und unterstützt worden – auf dem Weg in ihr neues Leben. Nach einer von Gewalt geprägten Kindheit hat Yasemin bei ihren beiden Betreuern zum ersten Mal Verlässlichkeit und Kontinuität erfahren. Heute ist aus ihr eine selbstbewusste junge Frau geworden, die nun eine Ausbildung im pädagogischen Bereich beginnen möchte: „Ich will etwas von dem zurückgeben, was mir gegeben wurde“, sagt die 23-Jährige.
Brigitte Wittig hilft Jugendlichen wie Yasemin, ihr Leben in den Griff zu bekommen
© SOS-Kinderdorf e.V.
Kein schöner Neuanfang nach der Flucht aus Anatolien
Die Kindheit von Yasemin ist geprägt von der Gewalt ihrer Eltern: „Ich war das Rabenkind in der Familie“, erzählt die heute 23-Jährige – und „ich weiß bis heute nicht, warum ich eigentlich so gehasst wurde.“ Als zweitjüngste Tochter wächst Yasemin mit sechs Geschwistern bei ihren Eltern in Südostanatolien auf. Als Yasemin zehn Jahre alt ist, stirbt ihre ältere Schwester, mit der sie ein sehr enges Verhältnis verband. Hals über Kopf flieht die Familie daraufhin mit dem Schiff über Italien nach Deutschland. Auf der nervenaufreibenden Flucht verliert Yasemin ihre Familie und verbringt mehrere Tage unter Fremden – auf einer Fahrt ins Ungewisse. Angekommen in Deutschland ist die Gewalt durch die Eltern weiterhin ein ständiger Begleiter: „Ich wurde immerzu herumkommandiert und wenn ich nicht gemacht habe, was ich sollte, gab es nur eine Antwort: Gewalt“, erinnert sich Yasemin. Fehlende Sprachkenntnisse und häufige Schulwechsel machen es ihr außerdem schwer, sich in Deutschland zu integrieren und Freunde zu finden.
Yasemin erlebte eine Kindheit voller Gewalt
Der erste Schritt in Richtung Rettung kommt im April des Jahres 2005: Nach einer Meldung der Nachbarn holt die Polizei das damals 12-jährige Mädchen aus der Familie. Drei Monate verbringt Yasemin im Krankenhaus, anschließend kommt sie in eine Pflegefamilie. Weil aber die Ehe der Pflegeeltern kriselt, kann sie dort nicht auf Dauer bleiben. Auf eine Zeit in verschiedenen Notunterkünften folgen ein Zusammenbruch und ein fünfmonatiger Klinikaufenthalt. Hier spricht sie zum ersten Mal über das, was sie erlebt hat und ihr wird klar, dass sie leben möchte. „Es hat sehr lange gedauert, die ganzen Erlebnisse zu verarbeiten und zu akzeptieren, dass das ein Teil von mir ist. Aber erst danach war ich offen für etwas Neues.“ Unterstützt durch ihren gesetzlichen Vormund sucht sich Yasemin einen Schulplatz und schaut sich verschiedene Wohnmöglichkeiten mit Betreuung an.
Bei den Flexiblen Hilfen in Bremen finden Jugendliche wie Yasemin kompetente Hilfe
© SOS-Kinderdorf e.V.
Flexible Hilfen – Selbstständiges Wohnen mit verlässlichem Rückhalt
„Das Konzept der Flexiblen Hilfen war einfach perfekt für mich“, lächelt Yasemin, „hier kann man ein selbstbestimmtes Leben in einem eigenen Einzimmerapartment führen, bekommt aber gleichzeitig Rückhalt durch die Begleitung der pädagogischen Mitarbeiter.“ Bis zu 14 junge Menschen zwischen 16 und 21 Jahren können sich bei den Flexiblen Hilfen Bremen den Weg in die Selbstständigkeit bahnen. In dem großen Mehrfamilienhaus im Bremer Stadtteil Schwachhausen befinden sich neben Einzelapartments auch mehrere 2er-WGs. Unten im Haus sind die Büros der Mitarbeiter, Gemeinschaftsräume, eine Fahrradwerkstatt, ein Musikkeller sowie ein großer Garten. Die Jugendlichen lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und ihren Alltag zu gestalten. Sie bekommen Unterstützung bei der schulischen und beruflichen Orientierung, bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz, aber auch bei der Bewältigung persönlicher Krisen und Traumata. „Ich hatte die Möglichkeit, mich zurückzuziehen, wann immer ich wollte, und gleichzeitig waren meine Betreuer da, wenn ich sie gebraucht habe“, berichtet Yasemin.
Weg in die Selbstständigkeit
Die ersten Schritte in die Selbstständigkeit beginnen für die Jugendlichen gleich mit dem Einzug: „Zuallererst bin ich mit meiner Betreuerin losgefahren, um Möbel zu kaufen und mich einzurichten“, erinnert sich Yasemin. Neben der Erstausstattungsbeihilfe für die Anschaffung des Hausstands, bekommt Yasemin nun regelmäßig HLU (Hilfe zum Lebensunterhalt), die – bis auf eine kleine Sparrücklage – selbst verwaltet werden muss. Für Yasemin eine große Aufgabe, denn „mit Geld umgehen konnte ich überhaupt nicht, das musste ich erst Stück für Stück lernen.“ Eine weitere Baustelle ist für die Jugendliche der Umgang mit Emotionen, erinnert sich auch ihre Betreuerin Brigitte Wittig: „Wann nehme ich mich zurück, wie sage ich etwas, das waren bei uns Dauerthemen, aber da bietet die Gruppe hier im Haus durch die vielen Gemeinschaftsaktivitäten auch das perfekte Lernfeld.“
Man wächst zusammen
Mit jedem Jugendlichen individuell und flexibel arbeiten zu können, ist für Brigitte Wittig das Schönste an ihrer Tätigkeit bei den Flexiblen Hilfen: „Jeder Jugendliche ist anders, jedes Mal ist es ein Stück Abenteuer, man kann und darf improvisieren, bekommt immer neue Herausforderungen und deshalb macht mir der Beruf auch nach über 20 Jahren immer noch Spaß“, schwärmt die Sozialpädagogin und ergänzt: „Mit mehr Erfahrung macht es noch mehr Spaß, weil ich ruhiger bin, gelassener und Dinge anders betrachten kann.“ Für die 48-Jährige ist Yasemin eine der Klientinnen, die sie am längsten begleitet hat. Gemeinsam haben sie viel durchgemacht, zusammen gelacht, gestritten und geweint. „Es war ein hartes Stück Arbeit, aber wir sind beide daran gewachsen“, sagt Brigitte Wittig rückblickend. Dabei brauchte sie auch immer wieder die Beratung, Unterstützung und den Austausch mit den Kollegen. „Manchmal musste ich mich auch wieder distanzieren und darauf achten, Wut und Emotionen nicht auf mich zu beziehen, sondern vor dem Hintergrund ihrer Geschichte zu verstehen“, erinnert sich die Sozialpädagogin.
Zeit für Abschied
Mit 21 Jahren wird es für Yasemin schließlich Zeit, flügge zu werden. „Für den Übergang in die eigene Wohnung haben wir vom Amt für Soziale Dienste noch die Möglichkeit bekommen, Yasemin eine Weile ambulant weiter zu betreuen“, erzählt Brigitte Wittig. „So kam der neue Lebensabschnitt nicht ganz so abrupt und Yasemin hatte uns bei Bedarf noch zu ihrer Verfügung.“ Yasemin ihrerseits verließ die Flexiblen Hilfen mit einem lachenden und einem weinenden Auge: „Ich war froh, dass nun etwas Neues kommt und mein eigenes Leben beginnt, aber natürlich war es auch schwer, die Menschen nach so langer Zeit hinter mir zu lassen.“ Dankbar ist Yasemin den Flexiblen Hilfen aber vor allem: „Ich habe hier so viel bekommen und so viel profitiert, dass ich unbedingt etwas davon zurückgeben möchte“, erzählt Yasemin. Im Bremer SOS-Kinderdorf-Zentrum arbeitet sie daher nun ehrenamtlich im Offenen Café. Auch das Praktikum für ihr Fachabitur hat die 23-Jährige hier absolviert und dabei die ganze Bandbreite der Sozialarbeit kennengelernt: „Ich habe bei der Ferienbetreuung in der Grundschule geholfen, in der heilpädagogischen Tagesgruppe, im Spielkreis, bei den Veranstaltungen im SOS-Kinderdorf-Zentrum und sogar im SOS-Kinderdorf Worpswede habe ich hospitiert“, zählt Yasemin auf. Die Arbeit mit den Kindern hat ihr so gut gefallen, dass sie nun auch eine Ausbildung im pädagogischen Bereich machen möchte. Durch ihre eigene Biografie bringt sie viel Verständnis und Empathie für die Geschichten der Kinder mit und weiß oft intuitiv, was diese gerade brauchen. „Außerdem kann ich von den Kindern eine Menge lernen, Ruhe, Geduld, Ausdauer, all das, was mir sonst nicht so leicht fällt“, lacht sie.
Vorfreude auf die Zukunft
Ruhiger und ausgeglichener ist Yasemin inzwischen, das bestätigt auch ihre ehemalige Betreuerin Brigitte Wittig. Trotzdem arbeiten einige der traumatischen Erlebnisse noch immer in ihr, aber „es ist leichter geworden“, sagt Yasemin selbst. Zu ihren leiblichen Eltern ist der Kontakt seit zehn Jahren abgebrochen. „Ich habe mich oft gefragt, ob sich etwas ändern würde, wenn wir wieder miteinander sprechen würden, aber mit der Gewalt möchte ich nichts mehr zu tun haben“, sagt Yasemin bestimmt. Zu Brigitte Wittig und auch zu ihrer Therapeutin, die sie über die Jahre begleitet hat, steht Yasemin hingegen nach wie vor in engem Kontakt: „Ich kann immer anrufen, wenn etwas ist“, weiß die 23-Jährige, „und mich auf sie verlassen und ihnen vertrauen.“ Vor diesem Hintergrund ist Yasemin auch froh über den Verlauf ihres Lebens: „Sonst hätte ich die beiden nie kennengelernt. Und jetzt geht es mir ja gut und ich freue ich mich auf das, was noch kommt.“
*Name wurde abgeändert