„In vielen Familien herrschte der Ausnahmezustand“
Corona hat die Lage in Familien, die vorher schon Probleme hatten, noch zusätzlich verschärft. Dietmar Kraft, Bereichsleiter der ambulanten Familienhilfe bei SOS-Kinderdorf, kennt die Nöte aus nächster Nähe.
Rund eineinhalb Jahre Corona: Wie schwierig ist es für Familien?
Vermutlich jeder weiß aus seinem Umfeld, dass zuletzt auch Familien, die sonst gut zurechtkommen, schon arg zu kämpfen hatten. Für Familien, die wir im Auftrag des Jugendamtes begleiten und unterstützen, stellte sich die Lage weitaus gravierender dar. Beengte Wohnverhältnisse, dazu wirtschaftliche Sorgen und gesundheitliche Einschränkungen: Da braucht es mitunter wenig, um sich überfordert zu fühlen. Überforderung kann in Gewalt gegen die Kinder münden.
Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Unsere Klientel hat in diesen Zeiten unsere Diensthandynummer, wir stehen den Familien bei allen Anliegen, Sorgen und Nöten zur Verfügung. Nicht nur, wenn das Wohl von Kindern in Gefahr ist, haben wir die Familien auch im Lockdown persönlich aufgesucht. Nur vor Ort erhalten wir einen umfassenden Einblick in die Lage. Wir müssen im Kinderschutz sehr wachsam sein. Wo geraten Kinder und Familien in Not? Wo schlagen Verzweiflung und Überforderung in Depression um? Wo werden die Kinder quasi sich selbst überlassen?
Ist es so schlimm?
Es war und ist für viele Familien schwierig, eine Struktur aufrechtzuerhalten. Gerade unsere belasteten Familien in den sozialpädagogischen Familienhilfen traf es besonders hart, als die Netzwerke und Unterstützungssysteme wegbrachen – sei es Tagesbetreuung, der Sportverein oder einfach auch der Besuch der Großeltern. Viele Familien standen und stehen teilweise noch mit dem Rücken zur Wand.
Was tun?
Wir versuchen, die Familien zu stärken, indem wir Strukturen vermitteln und Möglichkeiten aufzeigen, durch die Krise zu kommen. Vielen Familien fehlt die Energie, etwas zu unternehmen jenseits digitaler Medien. Unser wichtigstes Anliegen ist es, Eltern und Kindern das Gefühl zu geben, dass jemand aktiv an ihrer Seite steht. In vielen Familien herrscht seit nunmehr über einem Jahr Ausnahmezustand – und bei uns auch, weil wir sehr stark gefordert sind.