Psychische Erkrankungen steigen seit der Pandemie rasant an: Knapp 30 Prozent mehr 15- bis 17-Jährige wurden 2021 mit Depressionen in Kliniken behandelt.1 Damit Kinder und Jugendliche keine unumkehrbaren Auswege suchen, sich aus Scham mit ihren Ängsten verstecken oder in einer für sie ausweglosen Situation verharren müssen, braucht es zeitnahe Hilfe. Doch auf einen Therapiebeginn müssen sie aktuell rund sechs Monate warten.
Christina Felsner, Leiterin der Sozialpädagogischen Familien- und Jugendhilfe (SFJ) des SOS-Kinderdorfes Ammersee-Lech in Landsberg
© SOS-Kinderdorf e.V. / Foto: Gertrud Halas
Christina Felsner, Leitung der Sozialpädagogische Familien- und Jugendhilfe (SFJ) des SOS-Kinderdorfes Ammersee-Lech in Landsberg, weiß aus Erfahrung: man müsste viel mehr Kindern und Jugendlichen zeitnahe Möglichkeiten zur Psychotherapie bieten! Das gesamte psycho-soziale System ist überlastet: Kindergärten, Schulen, Beratungsstellen, Krisenanlaufstellen usw. – überall fehlt es an Kapazitäten und das zum Schaden der Betroffenen. Im Gespräch berichtet die Pädagogin aus ihrer Arbeitspraxis.
Wie äußert sich der Mangel an Therapieplätzen für Kinder und Jugendliche in Ihrer Arbeit?
Felsner: Wir helfen Familien ambulant in belastenden Situationen und stellen fest: es wäre ein sehr hoher Bedarf an Therapieplätzen für Kinder und Jugendliche da. Gerade wenn schwere Probleme auf Familien lasten und die Eltern sich große Sorgen um ihre Kinder machen, ist es noch schlimmer in die „Warteschlange“ gestellt zu werden.
Was tun Sie, um den Mangel zu kompensieren?
Felsner: Zuallererst helfen wir bei der Suche nach einem Therapieplatz. Wir sind gut vernetzt und haken regelmäßig nach. Viele Eltern in schwierigen Lebenslagen könnten gar nicht die Kraft aufbringen, um allein die bürokratischen Hindernisse zu überwinden. Ein Beispiel: Bei den Krankenkassen gibt es meiner Erfahrung nach keine standardisierten Verfahren, wie mit spezifischen Anfragen zu möglichen Therapien umgegangen wird. So müssen Patienten beispielsweise nachweisen, dass die nächstgelegenen kassenärztlich etablierten Therapeuten keinen „Platz“ haben oder diese für die Patienten aufgrund eingeschränkter Mobilität nicht erreichbar sind, damit ggf. nicht-kassenärztlich zugelassene Therapeuten kostenlos konsultiert werden dürfen. Je nach Krankenkasse müssen Patienten unterschiedliche Nachweise erbringen. Allein dies verlangt den Betroffenen viel ab.
In Familien, in denen wir Familienhilfe leisten, ist erst auch einmal wichtig, einfach zuzuhören. Wir nehmen die Menschen und ihre Situation ernst und begegnen Kindern wie Eltern auf Augenhöhe. Oft ist ein großes Spektrum an Belastungen da. Wir machen uns ein genaues Bild und schaffen einen Überblick. Die Außenperspektive entlastet. Eltern sehen dann, wie viel sie eigentlich leisten müssen, und nicht mehr nur verzweifelt die „Schuld“ bei sich. Manche Probleme können „ausgelagert“ werden, manche gehören gleich bearbeitet. Wir suchen individuelle Lösungen für das jeweilige Familiensystem, d.h. etwa auch Hilfe bei Großeltern oder in einer Hausaufgabenbetreuung.
Welche Probleme haben Kinder und Jugendliche?
Felsner: Wir haben Kinder und Jugendliche, die sich selbst verletzen oder suizidal sind.
Oft geht es um Themen der Selbst- und Identitätsfindung. Etwa wie darf und soll mein Körper aussehen? Viel Druck resultiert aus den Sozialen Medien, in denen sich die Kinder und Jugendlichen selbst darstellen und vergleichen. Aber auch der Druck in der Schule ist oft groß.
Große Themen sind die allgegenwärtigen Krisen – der Ukraine-Krieg oder die Klimakrise. Manche Kinder und Jugendliche leiden stark unter dieser „Weltuntergangsstimmung“. Sie sehen keine Zukunft für sich. Das politische Tagesgeschehen beunruhigt sie extrem.
Was wäre Ihrer Meinung nach notwendig, um eine „erträglichere“ Situation für die Betroffenen zu schaffen?
Felsner: Es müssten mehr Plätze für Kinder und Jugendliche bei Therapeuten und in der Psychiatrie geschaffen werden. Ein leichterer Zugang ist notwendig. Andere Lösungen wie eine kostenlose Konsultation nicht-kassenärztlich etablierter Therapeuten müsste leichter ermöglicht werden.
Ein großer Faktor auf dem Land ist die fehlende Mobilität. Wie gelangt man zu seinem Therapeuten im Nachbarort? Schon Geld für ein Zugticket oder ein Taxi würden hier weiterhelfen. Wir fahren unsere Jugendlichen im „Betreuten Jugendwohnen“ regelmäßig zu ihren Therapeuten; da sie oftmals ihre Therapeuten nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen oder sich aufgrund von finanziellen Engpässen keine Tickets leisten können.
Diese Jugendlichen sind meist auf sich allein gestellt und werden durch Mitarbeitende der SFJ unterstützt. Ihre Hilfeberechtigung endet mit spätestens 21 Jahren. Im Rahmen der Hilfeprozessplanung wird halbjährlich untersucht, ob eine weitere Unterstützung durch die SFJ notwendig ist. Unsere Schützlinge werden vor diesem Hintergrund früh verselbstständigt. Neben den klassischen Themen wie Schule und Ausbildung bereiten wir sie darauf vor, dass sie sich selbst etwa um ihre Therapiesitzungen kümmern müssen, und informieren über Krisennotdienste. Rückfälle oder Retraumatisierungen sind möglich. Wir helfen dabei, einen selbstständigen Umgang damit zu finden.
Hier ist eine Enttabuisierung des Themas in der Gesellschaft ein weiterer wichtiger Punkt. Denn es ist immer noch nicht „normal“, als Kind oder Jugendlicher in Therapie zu sein. In der SFJ veranstalten wir beispielsweise Gruppenabende für Jugendliche, in denen sie u.a. über ihre Therapieerfahrungen berichten. Der Peergroup wird oft mehr Vertrauen geschenkt.
Im Allgemeinen müsste mehr Aufklärungsarbeit in den Sozialen Medien angestrebt werden. Man muss Jugendliche in ihrer Welt abholen, um zu erreichen, dass sie Scham überwinden und sich überhaupt Hilfe suchen bzw. wissen, wie und wo sie Hilfe finden.
Gibt es noch einen konkreten Vorschlag ihrerseits zur Verbesserung der Situation?
Felsner: Jugendliche dürfen erst ab 15 Jahren selbstbestimmt zur Therapie gehen. Unter 15 Jahren brauchen Kinder dazu die Einwilligung ihrer Eltern. Manche Eltern sperren sich aber gegen eine Therapie oder sind mit ihrem Verhalten selbst Grund für die Gefährdung des Kindeswohls. Die Geheimhaltung vor den Eltern wäre in manchen Fällen enorm wichtig, um die Kinder und Jugendlichen emotional zu entlasten. Eine Herabsenkung dieser Altersgrenze würde akut helfen.
[1] Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit: Pandemie: Depressionen und Essstörungen bei Jugendlichen steigen weiter an; 27.05.2022; https://www.dak.de/dak/bundesthemen/pandemie-depressionen-und-essstoerungen-bei-jugendlichen-steigen-weiter-an-2558034.html#/
Die Idee zur Petition für mehr Therapieplätze für Kinder und Jugendliche entstand im Kinder- und Jugendrat des SOS-Kinderdorf e.V. Der Rat vertritt die Rechte von Kindern und setzt sich aus betreuten Kindern und Jugendlichen von SOS-Kinderdorf zusammen. Er hat die Forderungen gemeinsam erarbeitet und dazu auch mit Psychiatern, Therapeuten und anderen Experten gesprochen. Eine Petition von Kindern für Kinder!
Mehr Informationen zur Sozialpädagogische Familien- und Jugendhilfe (SFJ) finden Sie hier.