Kinder im Blick

23. Oktober 2018

Was Kindern hilft, wenn die Eltern getrennte Wege gehen

„Mein Sohn spricht nicht mehr mit mir“, klagt eine frisch geschiedene Mutter: „Er ist so traurig, aber ich komme nicht an ihn heran.“ Ein Vater hat Angst, dass ihn seine 14-jährige Tochter, die laut Scheidungsurteil jedes zweite Wochenende bei ihm verbringen soll, bald gar nicht mehr besucht: „Meine Ex-Frau redet ihr ein, dass ich mich nicht wirklich für sie interessiere. Ich habe Angst, sie zu verlieren.“ Die meisten Eltern wollen trotz Krisen, Auszug und Anwaltsschreiben gute Eltern bleiben. Doch wie geht das?
„Kinder im Blick“ heißt das Trainingsprogramm, das die SOS-Beratungsstelle Landsberg am Lech seit fünf Jahren anbietet – bei wachsender Nachfrage. „Immer mehr Eltern lassen sich scheiden“, weiß Claudia Reinold. Die alte Faustregel, wonach die Hälfte der Paare in der Großstadt, aber nur ein Drittel der Paare im ländlichen Raum irgendwann wieder getrennter Wege geht, stimmt so nicht mehr. Auch nicht für den idyllischen oberbayerischen Landkreis Landsberg, wo inzwischen fast jede zweite Ehe geschieden wird.

Ex-Partner werden auf zwei Gruppen aufgeteilt

An sechs Abenden zu je drei Stunden können in Trennung lebende oder geschiedene Eltern sich coachen lassen. Einzelne Mütter und Väter sind willkommen, noch besser ist es, wenn beide Elternteile teilnehmen. Die werden allerdings stets auf zwei parallel laufende Kurse verteilt. So erhalten die Ex-Partner gleichzeitig das gleiche Wissen, kommen aber nicht in Versuchung, durch Vorwürfe und Streit vor der Gruppe den Abend zu sprengen. „Das Potenzial wäre natürlich da“, räumt Reinold ein. Ihre Aufgabe teilt sich die Kursleiterin immer mit einem männlichen Coach: „Es ist beides gleich wichtig: Die weibliche und die männliche Sicht auf die Dinge.“
„Kinder im Blick“ ist aber keine Selbsterfahrungs- und auch keine Therapiegruppe. Reinold: „Wir setzen den Fokus auf konkretes Verhalten, das heißt auf die Selbstfürsorge der Eltern, auf Techniken der Selbstbeobachtung und des Selbstmanagements.“ Sie lächelt: „Es gibt auch Hausaufgaben. Das ist ein Grund, weshalb wir uns alle 14 Tage und nicht wöchentlich treffen. Schließlich soll das Gelernte nach Möglichkeit gleich zuhause angewendet und geübt werden.“

Kampfzonen von Mama und Papa

Kampfzonen, in denen das Wohl der Kinder aus dem Blick zu geraten droht, gibt es zahlreiche: Eltern können sich nicht auf Betreuungszeiten einigen. Nach jeder „Übergabe“ der Kinder herrscht „dicke Luft“, weil Ex-Partner sich buchstäblich nicht mehr riechen können. Kinder werden als „Postboten“ benutzt, weil Vater und Mutter jede direkte Kommunikation eingestellt haben. Der Streit ums Geld, ausgetragen in zahllosen Anwaltsschreiben, belastet die ganze Familie. Ein verlassener Ehemann kocht vor Wut, weil der neue Partner seiner Frau die gemeinsamen Kinder zu einer Reise eingeladen hat, die er sich nicht leisten könnte.
„In solchen emotional hoch aufgeladenen Situationen laufen Eltern Gefahr, Dinge zu tun und zu sagen, die für die Kinder, ganz gleich welchen Alters, schwierig bis schädlich sind“, erklärt Claudia Reinold. Der Klassiker: „Schlecht über den Ex-Partner reden. Das tut Kindern immer weh. Die wollen grundsätzlich beide Eltern lieben, weil sie sich als Kind beider Elternteile fühlen. Wer den Ex-Partner miesmacht, macht in der Gefühlswelt des Kindes deshalb auch immer einen Teil des Kindes schlecht.“ Mit Techniken wie dem „Pausenknopf“, „hilfreichen inneren Kommentaren“ und anderen stressreduzierenden Verhaltensweisen sollen die Eltern lernen, auf dem Teppich zu bleiben, obwohl sie am liebsten auf die höchste Palme steigen würden. Sich selbst und den Kindern zuliebe einen konstruktiveren Umgang mit Konflikten anzueignen sei schon die halbe Miete, erklärt Reinold, „denn Eltern brauchen Kraft und ein gewisses Maß an Klarheit, um ihre Kinder in dieser schwierigen Zeit unterstützen zu können.“

Traurige, aggressive, oder in der Schule zurückfallende Kinder

Wirklich da sein heißt: Zuhören. Achtsam gegenüber dem Kind sein. Seine Gefühle zulassen, ihnen Raum geben, auch unangenehmen Gefühlen. Vor allem auf Trauer reagieren viele Trennungs-Eltern „wie die Feuerwehr“ weiß Claudia Reinold: „Sie fühlen sich mitschuldig am Kummer ihrer Kinder und wollen, dass die Traurigkeit schnell wieder weggeht.“
„Das ist menschlich und verständlich. Deshalb kommen sie aber leider oft mit Patentrezepten oder mit der Ansage: ‚Ist doch alles halb so schlimm‘ um die Ecke und übersehen, dass ihre Kinder unter dieser gut gemeinten Form der Nichtbeachtung verstummen. Denn die wissen ja, dass ihre Eltern gerade sehr mit sich selbst beschäftigt sind und ziehen sich immer weiter in ihr Schneckenhaus zurück. Oder sie machen auf andere Weise ‚dicht‘.“
Das Ergebnis können Verhaltensweisen sein, die die Landsberger Eltern häufig als Grund für die Teilnahme am Kurs angeben: Depressiv wirkende, zurückgezogene Kinder. Unerreichbar wütende oder sich selbst schädigende Kinder. Bei älteren Kindern und Jugendlichen: Völliger Kontaktabbruch zu einem Elternteil. Und dazu nicht selten: Schlechte Noten bis hin zur schulischen Totalverweigerung.

Glück ist, dem Kind wieder nah zu sein

„Das Wichtigste ist, mit dem Kind wieder ins Gespräch zu kommen. Und es auch in Zukunft zu bleiben“, sagt Claudia Reinold. „Das ist die Basis für alles Weitere.“ Insofern versteht das SOS-Kursleiterteam seine Arbeit nicht als schnellen Problemlöser, der aus widerborstigen Kindern „brave“ Kinder macht. Auch bis aufs Blut zerstrittene Eltern, die schon Anwälten und Richtern das Letzte abverlangen, sind nicht die primäre Zielgruppe von „Kinder im Blick“. Solche stark krisenhaften Situationen können in Einzelberatungen, die das SOS-Familienzentrum Landsberg ebenfalls anbietet, besser adressiert werden.
Die „leichten bis mittleren Fälle“ dagegen profitieren sehr vom „Kinder-im-Blick-Training. „Viele Eltern berichten bereits während des Kurses, dass kleine, bewusste Verhaltensänderungen erstaunliche Effekte haben“, freut sich Reinold. „Wir machen die Erfahrung, dass Eltern ihren Kindern zuliebe gerne bereit sind, Neues auszuprobieren. Das Allerschönste ist, wie beglückt sie reagieren, wenn ihnen die Kinder nach heftigen Turbulenzen und Entfremdungsphasen wieder nah sind. Wenn beide Elternteile wieder eine gute Beziehung zum Kind haben, haben wir unser Coaching-Ziel erreicht.
„Kinder im Blick“ wird im SOS-Familien- und Beratungszentrum Landsberg/Lech und im SOS-Familienzentrum Berlin angeboten. Das Programm wurde von der LMU München, Lehrstuhl Prof. Dr. Sabine Walper, in Zusammenarbeit mit dem Familiennotruf München entwickelt.