„Digitalisierung“ ist in aller Munde. Der Megatrend hat durch Corona endlich auch in Deutschland an Fahrt aufgenommen. Doch was heißt das im Speziellen? Im SOS-Familien- und Beratungszentrum in Landsberg wurde gerade während der Lockdowns digital beraten und das mit großem Erfolg.
Maria Stock, Bereichsleiterin der SOS-Beratungsstelle in Landsberg, kennt die Vorteile digitaler Beratung genau und hofft, diese noch weiter fördern zu können.
© SOS-Kinderdorf e.V.
Maria Stock, Bereichsleitung der SOS-Beratungsstelle in Landsberg, sitzt an ihrem Rechner, um die letzten E-Mail-Anfragen zu überfliegen. Dann ist sie voll und ganz präsent. Sie wirkt, als hätte sie schon viel erlebt und wisse daher ganz genau, wovon sie spricht. Durch ihre Brillengläser fokussiert sie ihr Gegenüber und erläutert dann konzentriert, warum Digitalisierung für die Beratungsstelle so wichtig ist.
Natürlich habe die Corona-Pandemie eine gewichtige Rolle dabei gespielt, dass immer mehr über Videokonferenzen beraten wurde. Denn wenn Rat- oder Hilfesuchende nicht in die Beratungsstelle kommen dürfen, dann muss ein anderer Weg gefunden werden, um in Krisensituationen zu unterstützen. Und Video- kommt Präsenzberatung am Nächsten.
Viele Mitarbeitende mussten sich zunächst auf das neue Medium im Beratungskontext einlassen. Denn es gibt unterschiedliche Software, die mehr oder weniger komplex in der Bedienung ist. Technische, mediale und methodische Kompetenzen mussten erworben werden, Fragen des Datenschutzes beantwortet. Dazu besuchten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zahlreiche Fortbildungen zur Förderung ihrer digitalen Fähigkeiten. Die Liste geht über eine ganze Seite. Und dann: der Sprung ins kalte Wasser. Die Berater und Beraterinnen lernten das Schwimmen aber recht schnell.
Vorteile digitaler Beratung
Das Schöne dabei: es zeigen sich viele Vorteile, die erst jetzt in den Fokus rücken. „Für unsere Zielgruppe ist inzwischen nicht mehr die Anonymität (wie zu Beginn der Beratung im virtuellen Raum) ausschlaggebend, sondern vor allem die Flexibilität“, kommentiert Martina Stadler, Sozialpädagogin und seit 2019 in der SOS-Beratungsstelle tätig. In ländlichen, abgelegenen Regionen wird so der Zugang zu Beratung erleichtert. Jugendliche sind beispielsweise auf eine gute Infrastruktur für öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Im Allgemeinen können Menschen mit Mobilitätsproblemen im virtuellen Raum viel leichter beraten und unterstützt werden.
„Online können beide Elternteile besser eingebunden werden. Manchmal schaltet sich ein Elternteil aus der Arbeit zur Beratung zu oder getrennt lebende Eltern finden leichter einen Termin, der zusammen wahrgenommen werden kann,“ erläutert Maria Stock. Die Integration beider Eltern in den Beratungsprozess stärkt nicht nur die Elternebene, sondern die Ressourcen im Familiensystem werden so auch besser wahrgenommen und ausgeschöpft. Oder man denke an Alleinerziehende. Diese können beispielsweise, wenn ihre Kinder einen Mittagsschlaf machen oder sich allein beschäftigen, online an einer Beratungssitzung teilnehmen. Zeitliche und räumliche Flexibilität schafft so Freiheit, die für manche wirklich essentiell ist, um schwierige Lebenslagen meistern zu können.
Maria Stock half während des ersten Lockdowns etwa einem jungen Mädchen mit Suizidgedanken. Die Betroffene und ihre Mutter konnten sich sehr gut auf einen telefonischen Beratungsprozess einlassen. Durch die regelmäßigen, lösungsorientierten Gespräche konnte sich das Mädchen wieder stabilisieren und die Mutter mehr Handlungssicherheit im Umgang mit den Nöten ihrer Tochter gewinnen. Die Beraterin drang trotz der räumlichen Ferne zu dem Mädchen durch und half ihr, ihre Selbstmordgedanken in den Griff zu bekommen. „Manche Menschen glauben, dass man jemanden über so eine Distanz hinweg nicht richtig trösten kann. Anders ist es schon ohne physische Nähe, aber helfen kann man trotzdem,“ erläutert Stock.
Jugendlichen helfen
Jugendliche liegen Maria Stock sehr am Herzen. Sie wollen oft eigenständig, ohne Beisein der Eltern Beratung erfahren. Aber welche Teenager oder Twens telefonieren heute noch? Wer findet den Weg zu einer Beratungsstelle auf analogem Wege? Die Zukunft der Beratungsstellen ist (auch) digital. Das weiß Stock. „Ich bin für eine hybride Form der Beratung. Es muss Präsenzberatung genauso geben wie Videoberatung, E-Mail-Beratung oder auch Beratung auf Social-Media-Kanälen.“ Man muss die Lebenswelt junger Erwachsener berücksichtigen und sie über für sie leicht zugängliche Medienkanäle erreichen. Gerade die E-Mail-Beratung sollte ausgebaut werden. Denn oft trauen sich Jugendliche zu schreiben, was sie mündlich niemals äußern würden. Anonymität erleichtert, eine Verbindung aufzubauen. „Um per E-Mail zu beraten, muss man sehr gut geschult sein. Eine E-Mail-Beratung benötigt genauso viel Zeit in der Vor- und Nachbereitung wie eine Face-to-face-Beratung“, führt Stock aus. Aber man hole Jugendliche in ihrer Lebenswelt ab und das sei sehr wichtig. Das gelinge etwa auch über Chat-Funktionen oder andere Online-Tools.
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Eine digitale Zukunft am Beratungshimmel, die Maria Stock auf den Boden der Tatsachen holen will. Vielleicht wird es noch eine Weile dauern, bis weitere digitale Projekte umgesetzt werden können – der Wille dazu ist jedenfalls da; die Fortbildungen zur Medienkompetenz werden in der SOS-Beratungsstelle in Landsberg weiter ausgebaut. Vor dem Hintergrund, dass immer mehr Jugendliche Hilfe bei Beratungsstellen suchen sowie Wartezeiten von ca. einem halben Jahr bestehen, um einen Termin bei einem Psychotherapeuten zu erhalten bzw. in die Psychiatrie aufgenommen zu werden, erscheint diese Form der Hilfe sicherlich auch erstrebenswert und sinnvoll.
Der Bedarf steigt und damit auch individuelle Beratungskontexte, auf die die Beratenden angemessen reagieren müssen. „Um adäquat beraten und in Krisen intervenieren zu können, braucht es Hausbesuche wie E-Mail-Kommunikationen, Kindergartenelternabende wie Krisenchats,“ wird Maria Stock nicht müde zu betonen. Ihre Hoffnung: Vielleicht haben die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie wenigstens dazu beigetragen, die Vorteile der Digitalisierung zu ersehen und damit eine notwendige digitale Weiterentwicklung zu befeuern! Natürlich immer in kritischer Reflexion – das weiß eine zum Thema „pathologischem Medienkonsum“ erfahrene Beraterin ohnehin.