Die SOS-Mitarbeiterinnen (von links) Martina Moritz, Angelika Hammer-von Au und Stefanie Häder begleiten und unterstützen die vier ehemals unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge Achmed, und Shahidullah und Hajar schon seit drei Jahren.
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Die meisten der geflüchteten Minderjährigen haben einen Abschluß in der Tasche. Einige Jungs sind noch auf Lehrstellensuche.
Hajar, Shahidullah, Achmed und Akhil sind vier der 115 geflüchteten Minderjährigen, die seit 2014 in den Einrichtungen des SOS-Kinderdorfs in Landsberg Betreuung fanden. Sie sind quasi Flüchtlinge der ersten Stunde. Alle Vier sind hier erwachsen geworden, sie haben ihren 18. Geburtstag in Deutschland gefeiert, weit weg von ihren Heimatländern und Familien. Die vier haben, wenn auch im Detail ganz unterschiedlich, ähnliche Geschichten zu erzählen. Sie sind aus ihrer Heimat geflüchtet, nicht weil sie wegwollten, sondern weil sie wegmussten. Sie und ihre Familien hatten Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit. Auf der Flucht durch für deutsche Jugendliche nach Urlaub und Entspannung klingende Länder wie Bulgarien, die Türkei und schließlich Serbien, Ungarn und Österreich, wurden die unbegleiteten, damals noch minderjährigen Flüchtlinge von der Polizei misshandelt, von Schleppern im Stich gelassen, von Arbeitgebern ausgenutzt, wurden auf Schiffe oder in Bussen eingepfercht und wanderten auf Straßen, durch Wälder und Wiesen, bis die Schuhsohlen brannten. Schließlich fanden sie sich im Zug wieder, mit Reiseziel hin zu einem Ort Namens Munich - München. Keiner der Vier hatte jemals davon gehört.
Auf unterschiedlichen Wegen und Weisen landeten sie schließlich in Landsberg. Dort stampfte das SOS-Kinderdorf, vom Jugendamt der Stadt gebeten, sich der minderjährigen Flüchtlinge, die nach Landsberg verteilt wurden, anzunehmen, Einrichtungen aus dem Boden. Anfänglich herrschte Chaos, so wie überall in Deutschland in 2014. Doch man fand gute Räumlichkeiten, engagierte Mitarbeiter und viele Bürger mit dem Herzen am richtigen Fleck. Alle haben daran gearbeitet, dass es den jungen Leuten gutgeht. Heute sind rund 70 der 115 jungen Männer bereits in Ausbildung, viele der anderen arbeiten, drücken weiter die Schulbank, einige von ihnen suchen gerade noch eine Lehrstelle.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Suche nach dem „wie geht es weiter?“ ist nicht ganz einfach für die jungen Männer. Denn auch in Deutschland haben sie keine sorglose Zeit: ständig erhalten sie Post von der Ausländerbehörde, selbst während Prüfungsphasen oder mitten in der Lehre können sie zurückgeschickt werden. Es müssen Reisepässe und Dokumente angefordert werden, bürokratische Hürden mit unkooperativen Ländern genommen werden. Shahidullah aus Afghanistan berichtet, dass er vier Stunden in einer Anhörung befragt wurde. Ihm wird vorgeworfen, dass er seine Geschichte erfunden hat. Er ist mitten in einer Kfz-Mechatroniker-Ausbildung und ihm droht die Abschiebung. Wer hat etwas davon? Der höfliche etwas schüchterne junge Mann mit dem ordentlichen Haarschnitt, sauber gekleidet, fließend deutsch sprechend, erklärt: „Ich wollte nicht von meiner Mutter und meiner Schwester weg. Mein Onkel hat mich weggeschickt, um mich zu schützen.“ Was er sagt ist sehr emotional. Er wäre von den Taliban zum Dienst eingezogen worden. Wenn er jetzt zurückkehrt, kann man sich vorstellen was passiert. Als „Verräter“ wird er ganz sicher nicht mit offenen Armen empfangen.
Eine andere Seite schildert der sympathisch lebhafte Achmed, ebenfalls in fließendem Deutsch. Er ist Syrer und über Libyen geflohen, zuerst mit seiner Familie als er zwölf Jahre alt war, später mit 15 Jahren ging es alleine weiter. Welche deutsche Familie kann sich vorstellen, wie es sein muss, sein Kind alleine in eine unbestimmte Zukunft gehen zu lassen? Welche Not muss dahinterstecken?
Viele haben eine Ausbildung begonnen
Ausbilder Rainer Förstl von den Stadtwerken Landsberg überprüft mit Akhil, der gerade seine dreijährige Ausbildung mit Bravour absolviert hat, das Wasserreservoir in Landsberg
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Der heute 19-Jährige hat in Landsberg innerhalb kurzer Zeit sein Quali geschafft und jetzt seine Ausbildung als Dachdecker abgeschlossen. Auch ihm haben die Behörden schwere Zeiten bereitet. Und auch bei ihm ist es unklar, wie es weitergeht. Während er in der SOS-Wohngruppe wohnte, hat er, wie alle jungen Leute in Ausbildung, 75 Prozent seines Lehrgehaltes an den Staat abgegeben. Heute bewohnt er eine eigene kleine Wohnung.
Anfänglich, berichtet Achmed, seien einige seiner Arbeitskollegen ihm gegenüber vorurteilsbehaftet gewesen. „Wegen der Religion.“ Mehr als ein „guten Morgen“ sei ihnen nicht über die Lippen gekommen. Bei der Betriebsfeier hat dann einer dieser Kollegen neben ihm gesessen, ihn angestoßen und zwinkernd gesagt: „Du kannst froh sein, dass ich dich jetzt mag!“ Kulturelle Brücken sind auf allen Seiten zu schlagen. „Die Flüchtlinge fliehen ja gerade vor den radikalen Systemen“, bekräftigt SOS-Mitarbeiterin Angelika Hammer-von Au den guten Willen der jungen Menschen, sich in unserem Kulturkreis einzufügen. Achmed sagt dazu: „Wir sind doch alle nur Menschen!“
Behördenmarathon und Unsicherheit
Einige möchten natürlich hier bleiben, einige möchten aber, wenn es im Heimatland friedlich zugeht, wieder zurück. „Doch was ist in seinem Heimatland eine halbe Lehre wert?“, fragt Rainer Förstl von den Stadtwerken Landsberg und Ausbilder von Akhil. Denn auch Akhil hat ein Behördenmarathon hinter sich. „Das war eine große Zusatzbelastung und ein hartes Stück Arbeit für einen jungen Menschen, auch den Glauben daran nicht zu verlieren, die Lehre zu Ende bringen zu können.“ Der Ausbilder hatte sich anfänglich keine Gedanken darüber gemacht, dass, nachdem die dreijährigen Lehrverträge unterschrieben waren, Probleme mit dem Bleiberecht auftauchen könnten. Erst als Akhil von seinen Höhen und Tiefen berichtete, wurde er darauf aufmerksam. „Das ist für alle nicht gut!“, gesteht er. Natürlich auch für den Arbeitgeber nicht, der schließlich Kosten hat und bemüht ist, die jungen Leute ins Berufsleben zu führen. Heute hat Akhil seinen Kampf gewonnen: Er hat eine Erlaubnis für die nächsten zwei Jahre zu bleiben, wenn er arbeitet, er hat seine Lehre geschafft und sogar eine eigene Wohnung gefunden. „In den letzten drei Monaten hatte ich nur gute Nachrichten“, strahlt der junge Mann.
Die SOS-Mitarbeiter unterstützen die jungen Leute, so gut es geht, indem sie sich in das komplizierte Asylrecht einfinden und auf die sich häufig ändernde Gesetzeslage reagieren. In kritischen Fällen werden Anwälte eingeschaltet. Und auch die emotionale Seite versuchen die Mitarbeiter, so gut es geht, aufzufangen. Man sieht ihr auch ein bisschen den Stolz auf „ihre Jungs“ an, wenn Angelika Hammer-von Au von ihnen spricht:„Es ist unglaublich, dass sie trotz Trennung von ihren Familien, traumatischen Erlebnissen und Flucht, Kulturschock, Unsicherheiten durch ihren Aufenthaltsstatus und der ständigen Angst vor Abschiebung Deutsch lernen, ihren Quali oder Abschluss schaffen, ihre Lehre absolvieren und sich bemühen ihr Leben hier in Deutschland in den Griff zu bekommen!“