Janice* ist mit zwölf Jahren von zuhause abgehauen. Körperliche und seelische Gewalt waren an der Tagesordnung. „Mit neun wurde ich depressiv.“ In ihrer Not flüchtet sie auf die Straße. „Die Straße hat sich sicherer angefühlt als mein Zuhause“, sagt sie. Mit 15 wird sie in einer Pflegefamilie untergebracht, macht ihr Abitur. Es scheint bergauf zu gehen – doch die Gespenster ihrer Kindheit holen sie ein, werfen sie aus der Bahn. Janice flüchtet vor den Erinnerungen und reist ziellos durch Europa, wählt scheinbar freiwillig die Obdachlosigkeit – und damit, so weiß sie heute, den Selbstboykott.
Die Straße hat sich sicherer angefühlt als mein Zuhause
Vor fünf Jahren taucht das zierliche Mädchen zum ersten Mal in der Tagesanlaufstelle der Freiburger StraßenSchule auf. Sie schläft zu diesem Zeitpunkt unter Brücken und im Wald. „Als Frau bist du auf der Straße Freiwild“, sagt sie. Auf ihrem Skizzenblock verarbeitet sie im Kreativraum der Tagesanlaufstelle die traumatischen Erfahrungen, die sie gemacht hat. Es sind Selbstporträts, Bilder von Körpern, die zerbrechen. „Ohne das Zeichnen würde ich verrückt werden, das ist kein Hobby, das ist meine Rettung, meine Obsession.“ Die Sätze sprudeln wortgewaltig aus ihr heraus. „Wir brauchen die StraßenSchule und ihre Mitarbeiter*innen. Sie sind für mich wie ein Vater- und Mutterersatz.“
„Zu uns kommen junge Menschen wie Janice, die sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden, die ihr Zuhause und ihr Vertrauen zu Mitmenschen verloren haben. Und die häufig keine Hoffnung, Selbstvertrauen und Perspektive haben, dass sich etwas ändern wird“, sagt Sabine Risch, Sozialpädagogin der Freiburger StraßenSchule. Sie ist eine von sieben Mitarbeitenden, zu denen Janice nach und nach Vertrauen fasst.
Rettungsanker & Schicksalsgemeinschaft
Mit ihrem Schicksal ist Janice fortan nicht mehr alleine. Die Tagesanlaufstelle, die unter der Woche täglich von 13 bis 17 Uhr geöffnet hat, wird für Janice zu einer Art neuem Zuhause. Hier trifft Janice auf Leidensgenoss*innen, die zu Freund*innen werden. Auf junge Menschen, die wie sie auf die Straße flüchteten, weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wussten. Sie bilden eine Schicksalsgemeinschaft, tauschen sich aus. Mit einem Budget von insgesamt 17 Euro können sie täglich gemeinsam einkaufen gehen und in der Küche für alle kochen. Es gibt eine Waschmaschine, Dusche und Computer, mit denen sie Mails schreiben und nach Ärzt*innen, Wohnungen und Jobs suchen können. Außerdem besteht die Möglichkeit, die Tagesanlaufstelle als Postanschrift zu verwenden – damit auch Briefe wieder ankommen können. Behördliche Angelegenheiten zu regeln und Anträge zu stellen – ohne eine Adresse ein Ding der Unmöglichkeit. Für viele ist das der erste Schritt in eine positive Zukunft. „Über tausend Besuche junger Menschen in prekären Lebenssituationen haben wir 2018 in unserer Tagesanlaufstelle gezählt. Manche kommen nur einmal, andere, wie Janice, fast täglich. Im Schnitt sind bis zu 30 von ihnen täglich da“, sagt Sabine Risch.
Endlich seelische Hilfe
Vor einem halben Jahr hat Janice endlich eine eigene Wohnung gefunden. Doch damit ist noch lange nicht alles gut. Nach wie vor leidet Janice unter den Folgen der früheren Traumata und dem Leben auf der Straße. Ihr inneres Programm ist noch nicht auf Selbstschutz und Selbstliebe eingestellt und es kostet sie täglich Kraft, nicht in destruktive Muster und Selbstaufgabe zu verfallen. Ende 2019 beginnt sie deshalb eine Gruppentherapie. „Ich bin so dankbar für die Hilfe. Alleine hätte ich den Mut verloren.“ Sie will raus aus der alten Rolle, will sich nicht mehr schuldig fühlen für die schlimmen Dinge, die ihr widerfahren sind. Endlich hat sie ein Ziel vor Augen: Ihre Seele heilen – und dann irgendwann eine Ausbildung machen und einen Beruf ausüben.
© Fotos: SOS-Kinderdorf e. V. / Felix Grotheloh
*Namen zum Schutz der realen Personen geändert.