Viele der wohnungslosen jungen Menschen haben in ihrem Leben schon traumatische Erfahrungen gemacht. Immer wieder können daraus psychische Erkrankungen wie eine Depression oder eine Psychose entstehen. Das macht das Leben auf der Straße und den Weg von der Straße weg noch komplizierter. Gleichzeitig ist psychologische Hilfe für Straßenjugendliche doppelt schwer zu finden – denn zu den langen Wartezeiten psychologischer Praxen kommen für Straßenjugendliche ganz besondere Hürden hinzu. Davon erzählt das Interview unten.
Das Projekt Drachenflieger der Freiburger StraßenSchule verbindet Straßensozialarbeit mit psychologischer Hilfe: Eine Psychologin ist regelmäßig mit unserem pädagogischen Team unterwegs – zu Fuß oder mit dem Fahrrad in der Lebenswelt der Straßenjugendlichen. Sie hört ihnen zu und informiert über psychische Erkrankungen, sie berät und begleitet junge Menschen, die sich weitere Unterstützung wünschen. Auch so lange bis ein Therapieplatz oder eine passende Facheinrichtung gefunden ist.
»Psychologin? Brauch‘ ich nicht. Aber du, du bist okay!«
Seit Herbst 2020 hat die Freiburger StraßenSchule eine neue Mitarbeiterin. Johanna Mergel ist Psychologin. Sie geht aktiv auf eine Zielgruppe zu, die bisher kaum erreichbar war: junge Menschen auf der Straße, die psychisch erkrankt sind. Ein Blick in die Praxis.
Psychologin Johanna Mergel auf dem Weg zu einem Beratungstermin auf der Straße.
© SOS-Kinderdorf e.V. / Fotograf: Freiburger StraßenSchule
Warum braucht es eine Psychologin auf der Straße?
Johanna Mergel: Psychische Beschwerden sind in unserer Gesellschaft stärker verbreitet als die meisten Menschen glauben. Straßenjugendliche sind davon genauso betroffen, wenn nicht stärker. Viele von ihnen haben in ihrem Leben traumatische Erfahrungen gemacht. Depression, sexuelle Gewalt oder Sucht sind oft keine Unbekannten für sie. Und gleichzeitig ist es für diese jungen Menschen eine besondere Hürde, Kontakt zu Beratungsstellen und psychologischen Anbieter*innen aufzunehmen.
Warum ist es für Straßenjugendliche so schwer, psychologische Hilfe zu finden?
Johanna Mergel: Erstens sind es organisatorische Dinge. Das Leben auf der Straße kostet Kraft und Zeit. Es ist nicht leicht, Termine zu organisieren, wenn du tagsüber damit beschäftigt bist, wo dein nächster Schlafplatz ist oder wie du an etwas zu Essen kommst. Auf der Straße geht das Zeitgefühl verloren. Welcher Tag ist heute? Wie viel Uhr? Dann ist auch noch der Handy-Akku leer oder kein Guthaben mehr drauf. Viele Straßenjugendliche haben Hunde, die dürfen nicht mit in eine psychologische Praxis. Wer passt so lange darauf auf?
Hinzu kommt: Wenn man anfängt, seine Probleme aufzuarbeiten, wird es nicht sofort besser, sondern manchmal auch erst schlimmer. Das ist eine unbewusste Hürde, die zu dem anstrengenden Leben auf der Straße noch dazu kommt.
Können Sie von ein, zwei Beispielen erzählen?
Johanna Mergel: Ein junger Mann hat in seinem Leben schwere Schicksalsschläge erlebt, die er aber komplett verdrängt. Das ist seine Strategie, um auf der Straße zurecht zu kommen. Er sagt immer: »Mir fehlt nichts«, und er will nicht in eine Psychotherapie gehen. So tritt er aber mit allem auf der Stelle. Bei ihm versuche ich, eine Beziehung auf- und Vorurteile abzubauen: Was alles könnte Psychotherapie in seinem Leben konkret erleichtern und bessern.
Eine andere Klientin ist drogenabhängig. Sie war bereits in einer ambulanten Behandlung, hatte aber einen Rückfall. Dafür schämte sie sich und traute sich nicht mehr hin. Ich bin oft auf sie zugegangen und habe mit ihr geredet. Schließlich haben wir zusammen einen zweiten Anlauf genommen und uns in einer Drogenberatungsstelle einen Termin geben lassen. Jetzt hat sie dort »angedockt« und kann ihre Sucht mit professioneller Hilfe erneut angehen.