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Im Interview: Alexander Korritko

„Häusliche Gewalt ist das Schlimmste, was einem kleinen Kind passieren kann“

Häusliche Gewalt und Streit hinterlässt auch bei den Kindern Spuren

Alexander Korittko ist Diplom-Sozialarbeiter, Paar- und Familientherapeut und war lange in einer Jugend- Familien- und Erziehungsberatungsstelle tätig. Im Interview erzählt er, welche Folgen es für Kinder haben kann, wenn sie Gewalt zwischen ihren Eltern beobachten und wie ihnen nach einer solchen traumatischen Erfahrung geholfen werden kann.

Herr Korittko, wie schädlich ist es für Kinder, wenn sie zuhause Zeugen häuslicher Gewalt werden?

Das hängt davon ab, wie alt das Kind ist. Aber für sehr kleine Kinder bis sechs Jahre, ist das Schlimmste was passieren kann, dass es Eltern oder der Hauptbezugsperson schlecht geht. Kleine Kinder sind so abhängig von Erwachsenen, dass es für sie in diesem Alter sogar schlimmer ist, als selbst Gewalt zu erleben. Wir sehen das auch an den Folgen: Nahezu einhundert Prozent der Kinder, die in diesem Alter Gewalt gegen ein Elternteil beobachten, entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung. Bei Kindern, die selbst misshandelt werden, sind es ungefähr 80 bis 90 Prozent.

Wie sehen solche Störungen aus?

Wir wissen aus der Traumaforschung, dass wenn es keine Kampf- oder Fluchtmöglichkeiten gibt, das Gehirn abschaltet, um irgendwie zu überleben. Es kommt zur Erstarrung und dem sogenannten Todstellreflex. Kinder haben in Situationen häuslicher Gewalt selten Kampf- oder Fluchtmöglichkeiten. Trotzdem speichert auch in der Erstarrung ein Teil des Gehirns, die Amygdala, während dieser Abschaltung minimale Fragmente aus der Situation. Das kann ein Geruch sein, ein Bild oder ein Geräusch, das als Frühwarnsystem aufgenommen wird. Wenn ähnliche Gerüche, Bilder oder Geräusche im Leben des Kindes auftauchen, löst das das Frühwarnsystem aus, und die Vergangenheit schiebt sich emotional vor die Gegenwart. Nicht alle Kinder, die so etwas erleben, entwickeln Symptome. Aber, wenn es immer wieder passiert, dann kann es keine Besserung und keine Genesung geben. Das Kind steckt emotional in der Vergangenheit fest. 

Wie kann Kindern geholfen werden, das zu verarbeiten?

Es gibt gute Ansätze in der traumaorientierten Pädagogik. Das Kind braucht eine wiederkehrende Struktur und Rituale, so dass es lernt: Ich muss keine Angst mehr haben, die Welt ist wieder vorhersehbar. Das zweite wäre, dass das Kind in therapeutischer Begleitung erfährt, dass das Schreckliche vergangen ist. Es gibt dazu inzwischen gute Therapieformen wie zum Beispiel die Trauma-Erzählgeschichte. So lernt das Kind, dass die Erinnerungsfragmente, die es manchmal überfallen, in die Vergangenheit und nicht in die Gegenwart gehören. Und als drittes wäre es erforderlich, dass beide Eltern gegenüber dem Kind Verantwortung übernehmen – das gilt sowohl für die gewalttätige Person als auch für die nicht schützende Person. So merkt das Kind, dass seine Gefühle berechtigt sind. Wenn diese drei Bedingungen erfüllt sind, kann auch der Umgang nach einer Trennung der Eltern unter völlig anderen Gesamtbedingungen laufen und alle haben etwas davon.

Doch oft wirken Kinder nach einer Trennung bei Treffen dem gewalttätigen Elternteil noch sehr zugewandt. Wie kann das sein?

Ja, es gibt diese Situationen. Das kann daran liegen, dass Väter, die gegenüber den Müttern gewalttätig geworden sind – denn das sind die allermeisten Fälle-  sich dem Kind gegenüber trotzdem immer freundlich verhalten haben. Es kann aber auch sein, dass das Kind aus Angst beim Umgang ein Beschwichtigungsverhalten zeigt. Das merkt man daran, dass Kinder sich vorher gar nicht auf Treffen mit dem Elternteil freuen und hinterher für mehrere Tage „nicht zu gebrauchen“ sind. Das heißt, sie benehmen sich während des Treffens ganz freundlich, aber das, was sie an Wut und Traurigkeit parallel dazu unterdrücken, kommt dann später intensiv heraus.

Um zu verhindern, dass der Umgang mit dem getrenntlebenden Elternteil dem Kind schadet, setzten Jugendämter nach häuslicher Gewalt oft Umgangsbegleiter ein, eine Art neutrale Person, die die Treffen beobachtet. Funktioniert dieses Instrument immer gut?

Leider passiert es in einigen Jugendämtern, dass Umgangsbegleiter genommen werden, die das Kind überhaupt nicht kennen. Das halte ich für keine gute Lösung, denn dann ist der früher gewalttätige Elternteil der einzige, den das Kind bei diesen Treffen kennt. Und dann gerät es leicht in einen Zwiespalt. Auf der einen Seite wünscht es sich Nähe, andererseits hat es noch all diese schwierigen Gefühlen dem Elternteil gegenüber.

Wie sieht stattdessen eine gelungene Umgangsbegleitung aus?

Wir brauchen  Umgangsbegleiter, die vorher einen guten emotionalen Kontakt zum Kind  herstellen und die auch hinterher mit den Müttern zusammen eine Nachbereitung machen. Idealerweise sprechen sie auch mit Erziehern und Lehrern, um sich nicht nur auf die Mutter zu verlassen, wenn sie herausfinden wollen, wie es dem Kind vor und nach den Treffen geht.