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Im Interview
Sofía García García ist SOS-Kinderdorf-Beauftragte bei den Vereinten Nationen

Sofía García García ist SOS-Kinderdorf-Beauftragte bei den Vereinten Nationen

Sofía García García ist SOS-Kinderdorf-Beauftragte bei den Vereinten Nationen

„Alle Kinder zählen!“: Interview mit Sofía García García, SOS-Kinderdorf-Beauftragte bei den Vereinten Nationen

Frau García García, wie würden Sie einem Kind Ihr Berufsbild erklären?
Ich würde sagen, mein Job ist es, täglich dafür zu sorgen, dass Regierungen weltweit die bestmöglichen Entscheidungen für junge Menschen treffen. Dazu müssen sie die Stimmen der Kinder aber auch hören und an ihren Erlebnissen und Erfahrungen teilhaben können. Dafür sorge ich. Ich schlage mit meiner Arbeit eine Brücke zwischen Politikern und den Kindern, die sie repräsentieren und denen sie dienen sollen.
Wie sieht das in der Praxis aus? Besuchen Sie dafür auch selbst SOS-Kinderdörfer?
Ja, viele auf der ganzen Welt! Das ist fester Bestandteil meines Terminkalenders. Es ist absolut wichtig für mich zu wissen, wen ich repräsentiere und worüber ich rede. Was ich den Vereinten Nationen oder anderen Entscheidungsträgern vermittle, sollte nie auf den Empfehlungen von mir oder nicht einmal SOS gründen; es soll sich daran orientieren, was die Menschen vor Ort wollen und brauchen.
Gibt es eine Begegnung dort, die sie kürzlich nachhaltig beeindruckt hat?
Jedes Kind, jeder Helfer beeindruckt mich. Viele von ihnen kommen mir regelmäßig in den Sinn – auch bei Gesprächen in New York. Am meisten berührt und bewegt hat mich wohl Jonathan. Ein neunjähriger Junge aus Uruguay, der an UN-Verhandlungen teilnahm. Zu Beginn war er unsicher und schüchtern, aber nachdem wir gemeinsam überlegten, was wir erreichen wollen und auch können, schmiedete er Pläne. Sein Beispiel zeigt, wie viel es wert ist, Vertrauen, Respekt und Hoffnung in ein Kind zu setzen – oft viel mehr als ein gedeckter Tisch oder ein Paar Schuhe. Denkanstöße gaben mir auch Gespräche mit minderjährigen Geflüchteten in Griechenland diesen Sommer – ich besuchte dort unsere Hilfsprogramme.
Wie haben Sie eigentlich Ihre eigene Kindheit erlebt?
Aufgewachsen bin ich in Salamanca in Spanien. Fast jeden Tag muss ich daran denken, wie privilegiert meine Kindheit war. Nicht, dass wir wohlhabend gewesen sind. Aber ich konnte gute, gebührenfreie Gesundheits- und Bildungseinrichtungen besuchen, wunderbare Lebensmittel vom Bauernhof meiner Großeltern essen und – das Wichtigste – auf die Liebe und Unterstützung meiner Familie zählen. Sie haben mir Respekt, Einfühlungsvermögen und Großzügigkeit vermittelt.
Warum sind Sie in die Politik gegangen?
Einige Kinder aus dem Dorf meiner Großeltern oder aus meiner Schule hatten es nicht so gut wie ich. Ihr Leid belastete mich damals sehr. Vor allem, weil ich der Überzeugung war, dass man ihnen schon mit minimalem Aufwand hätte helfen können. Wenn es mir gut ging, warum ihnen nicht? Aus diesem Grund entschied ich mich dazu, meinen Teil dazu beizutragen, das Leben für Hilfsbedürftige weltweit zu verbessern oder es zumindest zu versuchen. Die Kraft des Dialogs spielt dabei für mich eine große Rolle; wie sagt man auf Spanisch: „Convencer es mejor que vencer“. Zu überzeugen ist besser, als zu gewinnen.
Hilfe für die Hilfsbedürftigsten – dafür setzen sich die Vereinten Nationen seit längerem ein. 2000 wurden die Millenniums-Entwicklungsziele (MDGs) verabschiedet. Es ging dabei um Meilensteine in der Entwicklungspolitik. Was ist daraus geworden?
Obwohl großartige Fortschritte gemacht wurden, konnten die MDGs sehr viele Zielvorgaben nicht umsetzen. Millionen von Kindern gehen immer noch nicht zur Schule. Viele sterben an vermeidbaren Krankheiten oder Unterernährung, noch bevor sie fünf Jahre alt sind. Armut steht der Entwicklung vieler Kinder entgegen und bleibt ein Grund für den Verlust elterlicher Fürsorge.
Woran lag es, dass die Ziele nicht erreicht wurden?
Dafür gibt es sehr viele verschiedene Gründe. Manche sagen, die Wirtschaftskrise spielte eine Rolle. Manche sagen, die Ziele waren zu ehrgeizig. Worin wir alle übereinstimmen würden, ist, dass es an politischem Mut und Durchsetzungswillen fehlte.
Vielleicht gibt es ja mehr Mut, die neuen „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ (SDGs) – die 2016 in Kraft traten – umzusetzen. Was ist der Unterschied zum Vorgänger?
Die Ziele sind thematisch wesentlich umfangreicher und beheben einige der Schwachstellen des Vorgängers. Doch der signifikanteste Unterschied ist wohl, dass sie auf dem Grundsatz „Lasse niemanden zurück“ basieren. Wir wollen uns um die Menschen am Rande der Gesellschaft kümmern, die am dringendsten unsere Hilfe benötigen. Außerdem geht es nicht mehr nur um eine Nord-Süd-Agenda, sondern um universelle Lösungen. Alle Länder sind am Prozess beteiligt, sollen Probleme lösen und Berichte darüber schreiben.
Die Mitarbeit an den Zielen ist freiwillig. Ist das nicht ein großer Stolperstein für die Umsetzung?
Das ist ein notwendiges Übel. Es wäre extrem schwierig und manche halten es zudem für nicht sehr erstrebenswert, wenn die Vereinten Nationen die Macht hätten, Ländern ihre Entwicklungspolitik vorzuschreiben. Fortschritt kann verschiedene Formen annehmen und wir brauchen da eine gewisse Flexibilität. Ungeachtet davon haben die Regierungen eine moralische Verpflichtung zur Mitarbeit.
Inwiefern ist SOS in die neuen UN-Beschlüsse involviert?
Für SOS ist die neue Agenda eine hervorragende Möglichkeit! Es geht schließlich darum, unserer Verantwortung gerecht zu werden und sicherzustellen, dass die Regierungen bei ihren politischen Maßnahmen und deren Erfolgskontrollen die Situation der benachteiligten Kinder im Gedächtnis behalten.
War SOS-Kinderdorf bei den Verhandlungen dabei?
Ja, während die Agenda ausgearbeitet wurde, haben wir uns nicht nur mit unserem Wissen eingebracht. Wir haben die Stimmen und Erfahrungen all jener Kinder und ihrer Familien am Tisch mit vertreten. Sie sind ja der eigentliche Motor für Veränderungen.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Arbeit beginnt jetzt erst richtig. SOS trägt dazu bei, die geplanten Maßnahmen auf nationaler Ebene umzusetzen. Dafür teilt es zum einen sein Wissen und seinen Erfahrungsschatz mit den beteiligten Akteuren, zum anderen ermächtigt SOS Kinder und Jugendliche dazu, zum Erreichen der Ziele beizutragen. Man darf nicht vergessen: Seit 60 Jahren ist es die Kernaufgabe von SOS, genau die Aufgaben in die Praxis umzusetzen, die heute zu den neuen Zielen der UN gehören. Dabei haben wir uns schon immer auf Kinder konzentriert, die am dringendsten Hilfe benötigen. Wir haben Tausenden den Zugang zu Bildung und Gesundheit erschlossen, Tausenden dabei geholfen, sichere und anständige Jobs zu finden – auch mithilfe von großartigen Partnern aus der Wirtschaft wie der Deutschen Post (DHL).
Wie kann man eigentlich den Erfolg der Maßnahmen messen? Gibt es überhaupt genug Datenmaterial über notleidende Kinder?
Leider gibt es gerade zur Situation von Waisenkindern nur sehr spärliche offizielle Statistiken. Noch dazu fehlt in vielen Ländern das Bewusstsein dafür, dass der Staat für sie die Verantwortung trägt. SOS hat dazu die Kampagne „Alle Kinder zählen, aber nicht alle werden gezählt“ ins Leben gerufen und macht bei der Aufklärung darüber große Fortschritte. Zu diesem Zweck arbeitete man auch mit den jeweiligen Regierungen zusammen. Sie wurden mit technischem Knowhow ausgestattet und dabei unterstützt, relevante Daten zu sammeln und zu analysieren.
Sie haben einmal gesagt: Gerade Kinder ohne elterliche Fürsorge werden von Politik und Investoren sehr oft vergessen. Gibt es Hoffnung auf eine Verbesserung dieser Situation?
Ja, es gibt Hoffnung. Und SOS arbeitet daran, dass sie wahr wird. Regierungen können diese Kinder schließlich nicht für immer vernachlässigen. Zudem haben sie versprochen, niemanden zurückzulassen. Das ist ein wichtiges politisches Signal. Wir können sie und alle Beteiligten dabei durch Beratung bei Programmen und Entscheidungen unterstützen. Und natürlich nicht zuletzt dadurch, dass wir selbst eine Vorbildfunktion wahrnehmen.